Spaziergänge auf gepflegten Wegen, umgeben von duftenden Blüten und sattem Grün – so entspannt man seit Jahrhunderten im Nördlichen Harzvorland. Früher war dieses Vergnügen dem Adel mit eigenem Schloss nebst Garten vorbehalten. Während der Garten selbst jedoch wechselnden Moden unterworfen war, überdauerte der Erholungsfaktor die Jahrhunderte unbeschadet.
Deshalb möchte ich es heute den adligen Damen nachtun und in einem Schlosspark Entspannung suchen. Dazu bin ich an den Fuß des Elms gefahren, nach Destedt. In diesem Ortsteil von Cremlingen hat Johann Friedrich von Veltheim auf dem repräsentativen Gut der Familie ab 1765 einen Landschaftspark nach englischem Vorbild anlegen lassen. Die Idee kam von seiner Frau Sidonie, geborene von Münchhausen. Sie drängte darauf, den vorhandenen Barockgarten, einen Baumgarten und den Küchengarten in einen weitläufigen Park zu verwandeln – der neusten Mode entsprechend.
Als ich an der Lindenallee aus meiner Kutsche, pardon, meinem Auto steige, habe ich den dringenden Eindruck, das Idyll zu stören. Ein majestätischer Fischreiher, der neben der Straße die Teichoberfläche beobachtet hat, fliegt auf. Er lässt sich auf dem Geländer einer pittoresken chinesischen Brücke nieder und behält nun mich im Auge. Solchermaßen vorgewarnt springen auch die Frösche, die sich am Ufer gesonnt haben, mit lautem Platschen ins Wasser. Lediglich die Vögel in den Bäumen setzen ihr Konzert unbeirrt fort.
Zugang in eine andere Welt
Pech für den Fischreiher: Die bogenförmige chinesische Brücke, die schon vor 250 Jahren an dieser Stelle installiert wurde, ist der einzige Zugang zum Park. In der fernöstlichen Gartenkultur gilt diese Art von Brücke als Sinnbild des Übergangs von der gegenwärtigen Welt in das paradiesische Jenseits. Und so ähnlich fühle ich mich auch, als ich die Brücke überschreite: Ich betrete eine andere Welt, in der die Dinge, die mich bis jetzt beschäftigt haben, belanglos werden.
Am Wegesrand macht üppig blühender Jasmin auf sich aufmerksam – in der Sonne duften die Blüten betörend wie süßes Parfüm. Das Teichufer ist mit gelb blühenden Lilien bewachsen, die Frösche quaken mehrstimmig. Eine grüne Decke aus Wasserlinsen und weißen Blütenblättchen bedeckt die Teichoberfläche. In einer Lücke bemerke ich gerade geschlüpfte Kaulquappen. Sie wimmeln im Wasser herum und schaffen es sogar, kleine Wellen zu verursachen. Fasziniert beobachte ich das Schauspiel und bedauere zugleich, dass der Rhododendron am Wasser schon fast abgeblüht ist.
Jahrhundertealte Baumriesen bestimmen das Bild
Der in seiner Ruhe gestörte Reiher hat meinen Blick auf einige Bäume in Teichnähe gelenkt. Von der Brücke war er zuerst auf eine mächtige Goldesche gesegelt, um sich dann auf dem benachbarten Gingko in Sicherheit zu bringen. Der japanische Gingko-Baum, von dem überliefert ist, dass er aus China stammt, soll übrigens der zweitälteste seiner Art in Deutschland sein.
In ihrem Park hat die Familie von Veltheim eine Sammlung fremdländischer Gehölze angelegt, der ein großer Ruf vorauseilt. In früheren Jahrhunderten reiste man – genau wie ich heute – nach Destedt, aber auch in die Nachbarorte Lucklum und Veltheim/Ohe, um englische Landschaftsparks zu besuchen. Der Gutspark in Destedt ist allerdings der bekannteste Vertreter in der Region.
Der damalige Präsident der Deutschen Dendrologischen Gesellschaft, Dr. Fritz Graf von Schwerin, kam 1920 nach einer Tagung der Gesellschaft in Braunschweig regelrecht ins Schwärmen: „Der Park, wohl gartentechnisch der schönste von allen in diesem Jahr besichtigten und dendrologisch überaus reichhaltig, war in tadellosem Zustand; die Wiesen sämtlich frisch geschoren, die Wege in frischem, sauberstem Zustande …“. Besonders die exotischen Gehölze hatten es dem Baum- und Strauchkundler angetan.
Aus Samen zog der Gutsherr Fritz von Veltheim Gehölzraritäten, die auch an den herzoglichen Hof nach Braunschweig oder an umliegende Gutsparks geliefert wurden. Überwiegend amerikanische Arten prägen das Bild des Parks in Destedt noch heute.
Als ich auf dem geschwungenen Weg tiefer in die „Wildnis, die den Augen gefällig ist“ eindringe, komme ich beispielsweise an einem amerikanischen Tulpenbaum vorbei. Es ist der erste seiner Art, der auf unserem Kontinent gepflanzt wurde.
Von Gingko, Mammut und anderen Riesen
Einen Moment später erschrecke ich mich ordentlich: Am Weg steht ein riesiger Saurierfuß! Achso, es sind nur die Wurzeln einer mächtigen Blutbuche. Die Äste formen ein riesiges Blätterdach, das Schatten spendet an einem sonnigen und heißen Tag wie diesem. Die Äste reichen an manchen Stellen – so unglaublich das hierzulande klingt – bis zum Boden. Die beiden imposanten Bäume wurden im Jahr 1765 eingepflanzt.
In einer Baumliste werden rund 150 Bäume erwähnt, bei etwa der Hälfte handelt es sich um exotische Arten. Einem der Stars unter den Bäumen nähere ich mich jetzt: Es ist ein Mammutbaum, der an der nordamerikanischen Westküste beheimatet ist. Er ist über 37 Meter hoch und damit der kleinere der beiden Mammutbäume im Park. Der trotzdem äußerst beindruckende Baum steht in einem kleinen Tal am Fuße des Pflaumenbergs. Während in noch die beste Perspektive suche, um den Mammutbaum im Bild festzuhalten, entdecke ich einen großen, buschigen Rosenstrauch. Die kleinen rosafarbenen Blüten duften betörend.
Auf dem Weg zur Tuffsteingrotte
Nun wende ich mich dem Hügel zu, den Sidonie von Veltheim aufschütten ließ. Durch einen Blättertunnel führt ein Pfad in Richtung Pflaumenberg. An dieser Stelle bedecken Efeu und Jelängerjelieber den Boden. Ich erreiche eine Art Aussichtsbalkon. Hier wird mein Blick magisch angezogen von einer korkenzieherartig gewachsenen Trauerbuche. Ein außergewöhnlicher Baum!
Als ich mich meine Aufmerksamkeit endlich von diesem Giganten losreisen kann und mich umdrehe, entdecke ich hinter mir die Tuffsteingrotte – ein wichtiges Element des englischen Landschaftsparks. Sie ist total umwuchert von Efeu- und anderen Ranken. Hier haben möglicherweise die Damen früher – vor der Erfindung von Sonnencreme mit Schutzfaktor 50 und Anti-Aging-Funktion – Schutz vor den warmen Strahlen gefunden.
Der Pflaumenberg – Gartenzimmer mit Aussicht
Eine verwunschene Treppe führt auf das Dach der Grotte. Hier liegt gewissermaßen auf einer Höhe mit den Baumwipfeln eine lauschige Terrasse mit Aussicht. Der Blick schweift zwar nicht mehr wie früher bis nach Braunschweig – davor steht die Trauerbuche. Aber die Wiesen und Pferdeweiden des Harzvorlandes sind ein vollwertiger Ersatz und bieten ein Bild wie von einem Künstler inszeniert.
„Ich vermute, dass der Hügel im 18. Jahrhundert Ziel so manchen Familienausflugs war“, hat mir Mechthild von Veltheim einmal erzählt. Sie kümmert sich mit um das grüne Vermächtnis ihrer Vorfahren. „Mit Silberkanne, Gebäck aus der Gutsküche und stilvoller Bedienung“, so stellt sie sich das Teestündchen auf dem Pflaumenberg vor. Und sie war sich sicher, dass ein livrierter Diener den Picknickkorb durchs grüne Tal zum Hügel schleppte.
Ich bemerke den Duft von Holunderblüten und schaue mich suchend um. Ahh! Tatsächlich entdecke ich neben der geschwungenen Sandsteintreppe, die zum Sitzplatz führt, einen Strauch mit großen, weißen Blütendolden. Ich kann mir richtig vorstellen, wie gut hier oben bei Sonnenschein ein Glas selbstgemachter Holunderblütensirup schmeckt.
Destedt: einer der ersten deutschen Landschaftsparks
Würden mich nicht hin und wieder die Glockenschläge der Turmuhr aus meinen Tagträumen wecken – ich hätte glatt die Zeit vergessen in diesem Zaubergarten. Ich steige den Pflaumenberg hinab und trete hinaus in eine offene Parklandschaft wie aus dem Bilderbuch. Gartenfachleute behaupten, dass der Destedter Park einer der ersten Landschaftsparks in Deutschland ist, der nach einem durchgängigen Gestaltungskonzept angelegt wurde.
Von meinem Standort aus erkenne ich die Überreste der Reitbahn. Auf dieser Rasenfläche fanden zwischen 1958 und 1991 wichtige Turniere statt. Wiederkehrender Höhepunkt war das Flutlichtspringen mit anschließendem großen Zapfenstreich und Parkfeuerwerk.
Beim Bummel zwischen Rasen, Wiesen und Wäldchen entdecke ich eine überdimensionierte Urne, in der sich angeblich die Asche von Sidonie von Veltheim befindet. Und im kühlen Schatten dunkler Bäume blühen doch noch einige Rhododendren – eine Augenweide!
Heiraten mit Stil: im Palmenhaus
Weiter geht’s zum Palmenhaus des Gutsparks. Hier überwinterten früher kälteempfindliche Gewächse. Heute ist das Palmenhaus eine Außenstelle des Standesamtes Cremlingen. Aber auch für andere Feiern oder Firmenevents können das Palmenhaus, der Rasenplatz davor oder andere Bereiche des Parks heute gebucht werden. So geschieht es, das da, wo früher Mitglieder der Familie von Veltheim flanierten, heute potenziellen Kunden Luxuskarossen präsentiert werden.
In der Nähe des Palmenhauses entdecke ich auf der Wiese einen Brunnen und halte unwillkürlich Ausschau nach einem Frosch, den ich mit einem Kuss erlösen könnte. Interessanterweise sind Frösche an dieser Stelle Mangelware, weshalb ich mich wieder Richtung Teich orientiere.
Vorbei am Friedhof der Familie von Veltheim und dem großen Mammutbaum erreiche ich die mächtige Pastorenlinde. Unter dem wahrscheinlich ältesten Baum des Parks drehe ich mich um und erblicke die Gartenseite des Schlosses Destedt – das Heim der Familie von Veltheim.
Zurück am Teich – und ganz neue Ansichten
Auf dem Weg zurück überfällt mich manchmal die Angst, mich zwischen den weitläufigen Wiesen und den hohen Bäumen zu verirren. Aber die Sonne weist mir den Weg zur chinesischen Brücke.
Überrascht bemerke ich eine Wasserfontäne, die jetzt mit viel Plätschern Leben ins Wasser bringt. Auch die beiden Bewohner des Entenhauses – offensichtlich ein Pärchen – sind nun aktiv. Sie laben sich an den Wasserlinsen und anderen Leckerbissen, die sie im Teich finden.
Als ich die chinesische Brücke wieder überquere, bin ich nicht schlagartig zurück in der realen Welt. Die zauberhafte Atmosphäre des Parks hält mich noch eine Weile gefangen. Erst nach und nach kehren die Gedanken zurück, die mich vor dem Eintritt in dieses Wunderland beschäftigt haben. Wieso bin ich eigentlich gekommen? Ach ja! Ich wollte Euch vom Schlosspark berichten …